Ausschütteln der Jahresbilanz

Jahraus, jahrein dasselbe Theater mit dem Ende und dem Beginn, dem Absterben bzw. Wiederauferstehen frommer Wünsche zum Ende eines zivilen Jahres. Was hat man sich nicht alles vorgenommen, und wohin haben einen die festen Vorsätze geführt? Man steht am 31. Dezember zumeist wo anders, als man sich gewünscht hatte.

Könnte man wie die legendäre „Goldmarie“ bei Grimms Märchen von Frau Holle, die den Inhalt von Duvets aufschüttelte und so Schneefall produzierte, seine Vorhaben vor Jahresfrist einfach so über die Erde streuen, die leicht angegraute und verfilzte Bilanz über Gelungenes abzüglich Ungelungenes würde sich als klebrig-unausgegorene Schicht übers Erdreich wölben, gar grauslich anzuschau’n. Worin also bestünde im Endeffekt die Wertschöpfung eines solchen unbeschönigten Rückblicks, sollte der Optimismus von dereinst elendiglich eine Bruchlandung erzielt haben?

Fragen über Fragen. Doch wer bestimmt eigentlich, dass Bilanzen stets jahresbezogen zu sein haben? Wie wäre es mit einer überschaubaren Dosierung, z.B. auf 24 Stunden bezogen? Dann müsste man nicht in dunklen Wintertagen sich zurückzuerinnern versuchen, was vor einer unkontrolliert gespreizten Periode passiert sein könnte und dummerweise die Bilanz verdüsterte. Wer vermag schon im Dezember akkurat zu ermessen, wes Geistes Kind man im Winter oder Frühjahr zuvor war, wie die Umstände genau sich präsentiert haben, die man so sehr umwandeln wollte?

Daher plädiere ich hier unumwunden für kleinräumige Theater mit enger Bestuhlung, wo man den Schnauf seines Hinternachbars im Genick spürt, der Kopf des vorderen Zuschauers einem den Blick auf die Bühne halb verstellt und die harte Armlehne von zwei frei- oder unfreiwillig aneinander gekoppelten Liebhabern des Schauspiels beansprucht werden. Hier hört man das Räuspern, gellendes Lachen, unterdrücktes Gähnen oder kreischende Schrecksekunden anderer, ja sogar von sich selber, da man im Kontext zu den anderen sehr viel besser beurteilen kann, wie es um die eigene Befindlichkeit bestellt ist.

Ein ganzes Jahr gedanklich in einen Tag hineingepresst: Sie werden staunen, in welchem Grade Sie näher an sich heranrücken und auch kleine Erfolge besser bilanzieren können. Dazu gehört es, wenn man den Arm seines Sitznachbarn trickreich von der gemeinsamen Stütze treibt, den Blickwinkel permanent zu verbessern weiss oder mit lautem Gelächter sich den Scherzen des Volksschwanks so hinzugeben vermag, dass es scheint, als spielte das Ensemble vorne einzig für Sie. Glauben Sie mir, die Bilanz des verkürzten Tages kann sich präsentieren lassen. Vielleicht schöpfen Sie dergestalt sogar Mut, um dem Korsett vorsätzlicher Jahresbilanzen, die vom 1. Januar bis zum 31. Dezember reichen, inskünftig zu entgehen.

© 2018 Pressebüro Infogold, Ronaldo Goldberger, CH-5605 Dottikon AG

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